Gerda

Krieg
Gewalt

Am 17. Februar 1945 haben mich die Russen von meiner Tante geholt. Sie haben mich nach Mohrungen gebracht, in ein großes Sägewerk gesperrt. Nach vier Wochen wurden wir nach Insterburg gebracht und dort „verladen“. Es waren 50 Waggons und in jedem Waggon waren 50 Menschen, jeweils getrennt nach Männern und Frauen. Wir saßen auf Pferdemist, hatten Kopf- und Kleiderläuse. Es war kaum Platz, wir konnten nur in der Hocke auf dem Boden kauern. Ab und zu gab es hartes Brot, und manchmal auch Hering. Den konnten wir kaum essen, weil wir kein Wasser hatten zum Trinken. Zum Glück hatte ich einen Teelöffel dabei, damit konnte ich das Eis abkratzen, das an den Fenstern gefroren war, und mir die Lippen anfeuchten.

Wir hatten keine Orientierung, wussten nicht wohin der Zug fahren würde. Durch die Ritzen in der Waggonwand konnten wir nach draußen sehen, einmal lasen wir „Stalingrad“.

Vier Wochen waren wir unterwegs, immer in diesem Waggon. In der Zeit sind fünf Frauen gestorben, woran weiß ich nicht. Wenn der Zug angehalten hat, haben die Männer aus den anderen Waggons die Leichen rausgebracht. Während der Fahrt hat eine der Frauen ein Kind geboren. Man hat das Neugeborene durch ein Loch im Waggonboden nach draußen geschoben. Keiner hat dann darüber gesprochen.

Am 1. Mai 1945 sind wir in Sibirien angekommen. Es lag noch Schnee. Wir wurden ausgeladen  und mussten zum Lager Nishni-Tagil gehen. Manche konnten nicht mehr laufen und sind sitzen geblieben. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

Dreieinhalb Jahre war ich in Gefangenschaft. Ich musste Bäume fällen, Felder düngen, Torf stechen und trocknen, immer solange wie es hell war. Nachts schliefen wir in Erdhöhlen oder Holzbaracken auf Brettern. Ich wusste nicht, wo meine Familie abgeblieben ist. 1946, als ich zum ersten Mal schreiben durfte, habe ich kleine Karten an alle Verwandten geschickt, deren Adressen ich noch wusste. Ostern 1947 bekam ich dann einen Brief von meiner Mutter, die nach ihrer Vertreibung in Fretzdorf untergekommen ist. Am 31. August 1948 bin ich in Fretzdorf angekommen. Drei Geschwister waren dort. Mein Bruder war tot. Mein Vater blieb verschollen.